„Wie pragmatisch Du bist.“
Ein Satz, den ich die ersten 30-35 Jahre meines Lebens nicht gehört habe. Pragmatische Menschen kenne ich zu Hauf, 3/4 meiner engsten Familie ist enorm pragmatisch, was die Differenzen zu mir enorm deutlich machte. Ich glaube nicht an Horoskope, bin jedoch fasziniert von den Charaktereigenschaften einzelner Sternzeichen-Gruppen. Am interessantesten finde ich Zwillinge und Fische.
Vor Ewigkeiten habe ich mal gehört, dass die Menschen ab ca. 35 die Charaktereigenschaften ihres eigenen Sternzeichens ablegen und nach und nach die des Aszendenten annehmen, Alter. Das wollte ich nicht. Aber darum geht es hier nicht. Es geht darum, dass ich nun pragmatisch(er) bin. Das ist nicht über Nacht passiert, es war ein schleichender Prozess, der sich nach und nach offenbarte und sein Gesicht in vielen Nuancen der Zwischenmenschlichkeit zeigte, aber auch in Bezug auf die Betrachtungsweise des Lebens. Des eigenen Lebens.
Die erste Hälfte des Lebens lebst Du, um anderen zu gefallen und gerecht zu werden. Dann stellst Du fest, die 2. Hälfte ist womöglich keine.
Ich bin ein unfassbar harmonieliebender Mensch, um den Preis des eigenen „Unglücks“ in Form von nachgeben, einstecken, zurückstecken. Ich streite nicht und diskutiere auch nicht bis aufs Blut, ich werde nicht laut und niemals persönlich oder verletzend. Damit bin ich immer sehr gut gefahren, habe keine Entscheidung bereut, stets in Ruhe und Frieden gelebt und rosapuderiger Harmonie. Lieber steckte ich ein, als dass ich jemanden verletzt hätte. Kritik schluckte ich runter, fraß sie regelrecht in mich. Nicht nur im übertragenen Sinne. Dabei wurde ich fast nur aufgrund meines Aussehens kritisiert und auch nur von den Liebsten, den Engsten, denen, die man nicht verletzt.
Während ich mir diese Zeilen schwarz auf weiß ein- und vor allen Dingen zugestehe, spüre ich etwas Säure im Bauch. Es hat über 35 Jahre gedauert, bis ein leiser Widerstand in mir anfing zu brodeln, der sich anfangs so subtil äusserte, dass ich ihn kaum wahrnahm.
„Wie pragmatisch Du bist.“
„Sowas kenne ich gar nicht von Dir.“
„Das hat Dich doch sonst nie gestört.“
„Sei nicht sauer, ich meine es doch nur gut mit Dir.“
Das waren Codes, die ich nun endlich entzifferte. Ich hatte plötzlich Lust auf Widerstand, auf „Nein“ sagen, auf anecken, auf Provokation, auf Protest, auf „Lass mich!“ und „Leck mich!“
Herrgott, eckte ich damit an. Erstmal nur so mit dem kleinen Zeh, dann auch mit dem Hintern, Kopf und Herzen. Aber es fühlte sich gut an, es fühlte sich aber auch fremd und kühl an.
Vor 3 Monaten beschloss ich, meine Oma in Polen zu besuchen. Sie würde 88 Jahre alt werden und ich hatte sie seit 5 Jahren nicht gesehen. Ich möchte nicht lügen, das würde keine herzergreifende Geschichte werden, dafür verbindet mich nicht sehr viel Emotionales mit dieser Frau. Ich liebe sie, weil sie meine Oma ist. Meine große Oma-Liebe ist bereits gegangen.
Meine Oma ist eine große Kritikerin vor dem Herrn. Sie liebt mich. Mein Lachen, meine Intelligenz, meinen Lebensstil. Sie kritisiert seit ich denken kann meinen Körper. Jeden anderen auch, aber hier geht es um mich. Das machte sie immer, vor allem Leuten führte sie mich vor, tastete mich ab, mäkelte hier und da und sonderte hämische Sätze ab, um mich 5 Minuten später zu maßregeln, wenn ich nicht alles von der überdimensionierten Essensportion aufaß. „Damals im Krieg …“ – man kennt das ja.
3 Monate dachte ich darüber nach, was ich sagen würde, wenn sie wieder damit anfinge. 3 Monate lang überlegte ich mir schlaue Sätze und Beschwichtigungen. Als ich ankam und noch vor dem „Hallo, schön, dass Du da bist“ einen unnötigen Kommentar hörte, wurde ich sehr ruhig und gefasst. Und dachte an einen Tweet, einen, den ich immer und immer und immer wieder wie ein Mantra jeden Tag vor mich hin flüstere:
Mein Körper hat das Recht auf Unkommentiertheit.
— Hübscherei (@Huebscherei) 13. Juli 2015
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Und genau das sagte ich. Mit dem Vermerk: „Es reicht. Es reicht wirklich.“
Unter uns … das mag sich gar nicht so groß anfühlen, für jemanden, der an der Stelle eine sensationelle Pointe erwartet hat, aber lasst es mich so sagen: „Das macht nichts. Ich bin in der Hinsicht ziemlich pragmatisch.“
Niemand – und ich meine wirklich NIEMAND – hat das Recht, meinen Körper zu kritisieren.
[…] entsprechende Beitrag handelt nicht von den zwei Lebenshälften, sondern vom „Recht auf Unkommentiertheit“. […]