„Man hört ja gar keinen Akzent bei Dir“

höre ich nach 35 Jahren in Deutschland immer noch und kann nicht umhin als etwas Genervtheit zu verspüren, statt mich geschmeichelt zu fühlen.
So einen Satz nach zwei Jahren in Deutschland zu hören, als ich bereits mit 14 Jahren akzentfrei sprach und unfassbar gut in Beamten-Deutsch war, das wäre ein Kompliment gewesen. Aber nach 35 Jahren empfinde ich es als einen unbedachten side kick auf meine linguistischen Fähigkeiten.

Mit 12 Jahren fing ich bei ‚Guten Tag, mein Name ist‘ an, direkt mit 13 kam ‚Hello, my name is‘ dazu (Förderunterricht nach der Schule, da ich schon 14 war und einige Jahre nachholen musste) und als man meinte, ich könnte neben Pubertät, Kulturschock nach 12 Jahren Kommunismus, Lebensmittelmarken, Sperrstunde, Rationierung von allem, Eltern an die Hand nehmen und durch Ämter bugsieren, Verantwortung für jüngere Geschwister und Labyrinth-Lauf durch das deutsche Schulsystem ohne einen erwachsenen Navigator auch noch ‚Bonjour, je m’appelle‘ wuppen sagte ich das erste Mal laut ‚Nein‘, ohne Rücksprache mit meinen Eltern. Um 4 Jahre später mit ‚Hola, me llamo es‘ anzufangen.

Sprachen liegen mir, ich wollte schon immer etwas mit Sprachen machen. Damals gab es den Beruf einer ‚Europa-Sekretärin‘.
Durfte ich nicht machen, weil mir eine Fremdsprache fehlte. Man braucht zwei.

Ihr habt oben mitgezählt?
Genau.
Es lag an dem akzentfreien Deutsch und einem 1er Durchschnitt in dem Fach. Da spielte es keine Rolle, dass dies nicht meine Muttersprache ist. Ich hatte sogar 3 Fremdsprachen, wenn man Russisch noch mitgezählt hätte, but „REGELN!“ Der Weg war versperrt.

Warum ich das schreibe? Weil nach wie vor unterschätzt wird, wie es Kindern und Jugendlichen ergeht, die mit ihren Eltern nach Deutschland kommen und das erste Mal auf sich alleine gestellt sind, denn in der Regel sind sie sprachlich ihren Eltern überlegen und werden damit in eine Rolle gezwängt, für die sie ihre Kindheit aufgeben müssen, viel zu früh. Und erst später, wenn alles für die Familie erledigt ist und mit viel mehr Kraftaufwand kommen sie auf die eigenen Beine. Nach Umwegen, nach einigen Beerdigungen von Träumen und ungenutzten, weil unbekannten Chancen.

Diese Kinder haben nebenbei geschafft, wofür andere mehrere Studiengänge brauchen. Eines von denen schrieb gerade diesen Text.
Nicht auszudenken, welches Potential ich hätte entwickeln können, wäre ich Europa-Sekretärin geworden.

😊

Ein Gedanke zu “„Man hört ja gar keinen Akzent bei Dir“

  1. Hallo,
    sehr gutes Statement. Und ich muß gestehen, daß ich das auch noch nie aus der Perspektive gesehen habe. 👍

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