Mit 63 Jahren geht meine wunderbare Mama dieses Jahr in den verdienten Ruhestand. Sie hatte gestern ihren letzten Arbeitstag. Als ich sie anrief, klang sei ein wenig bedrückt. Ich fragte, wie es denn gewesen sei, zum letzten Mal durch das Tor der Fabrik zu gehen, in der sie die letzten knapp 30 Jahre an diversen Maschinen und Fließbändern gearbeitet hat.
„Ganz komisch“, sagte sie. Um sie aufzumuntern, erzählte ich ihr davon, dass wir ihr einen Flug nach Polen gebucht haben, damit sie Oma besuchen kann. Sie versteht noch nicht, im Laufe des Gesprächs bringe ich sie mehrmals zum lachen. Immer wieder sagt sie „Ah kochanie“ (Ah Liebling) und dann lacht sie.
Meine Mama ist ein ganz besonderer Schlag Mensch. Nachdem sie 3 ganz hervorragende Kinder großgezogen hat – durch alle Höhen und Tiefen des Sozialismus, Kalten Krieges, Lebensmittelrationierung, der Flucht nach Deutschland, unbekannter Sprache und der knapp 30 Jahre Arbeit in einer (elenden, menschenverachtenden, unterbezahlenden, ausbeutenden) Kuchenfabrik, möchte ich sie salben, umarmen, in Watte packen, ihre Hände streicheln und ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen.
Sie bringt mich an den Rand meiner exquisiten Erziehung, die ich ihr zu verdanken habe, wenn sie noch heute an mir rumerzieht, in ihrer sehr eigenen Art. Die Dialoge velaufen in der Regel folgendermaßen:
„Liebling, meine Süße, (das noch auf polnisch, dann kommt) meine Tochter (das schon etwas strenger), isst Du jeden Tag ein/e [beliebiges Obst/Gemüse/Körner/Essigessenzen einfügen]?“
„Nein, nicht jeden Tag.“
„Solltest Du aber, ist gut für/gegen [irgendwas, was ich nicht habe oder habe oder nicht brauche], aber nur ein/e. Sonst geht es Dir schlechter als besser.“
oder
„Ok, Mama, dann bis Ostern/Weihnachten/Morgen/Samstag.“
„Abwarten, so Gott will, mein Liebling.“
„Der soll sich da raushalten.“
„Ich werde für Dich beten.“
oder
[jeden beliebigen christlichen und selbst ausgedachten familliären Feiertag einfügen]
„Warst Du in der Kirche, meine Große?“
„Nein, ich bin ausgetreten.“
„Als ob sie Dich nach dem Ausweis fragen würden! Du könntest wenigstens an [jeden beliebigen christlichen und selbst ausgedachten familliären Feiertag einfügen] zu Gott beten.“
„In der Bibel steht „Gott ist überall“, ich könnte also auch auf dem K“
„Wag es ja nicht!“
oder
„In der [Titel eines beliebigen „Frauen-Blättchens“ einfügen] steht, wenn man [den Namen eines beliebigen Grundnahrungsmittels eintragen] isst, dann nimmt man [mindestens die geschätzte Hälfte meines Gewichtes] ab. Probier das doch mal, nur eine Woche. Ich sage das nur, weil ich Dich liebe.“
Auch schön:
„Nicht über die Schwelle verabschieden, das bringt Unglück.“
„Nicht den Teller ablecken, davon fallen einem die Haare aus.“
„Nicht die Blumen schenken, davon wird die Beschenkte hässlich.“
„Nichts ist unmöglich mein Kind, außer nen Schirm im Arsch aufspannen.“
(Davon sagen wir ihr besser nichts:
Mama sagte immer: ‚Nichts ist unmöglich mein Kind, außer nen Schirm im Arsch aufspannen.‘
Seit YouPorn starb auch diese Weisheit.
— Meg 🍁 (@meg_gyver) 3. Juli 2016
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Und doch hat niemand meine beruflichen und privaten Erfolge so gefeiert, wie sie. Kaum jemand hat mich so dabei unterstützt, meinen Weg zu gehen und immer da zu sein, wenn ich z.B. heulend vor einer Mandel-OP im Alter von 25 Jahren bei ihr anrief, weil ich Angst hatte.
Als ich den Rentenbescheid sah, kam mir buchstäblich die Galle hoch …
Inklusive Gewissensbisse ob meiner Entlohnung für geistige Arbeit im Vergleich zu ihrer Schufterei und einer beschämenden, demütigen Dankbarkeit für ihren Mut dafür, vor 29 Jahren ihre Kinder und ihren Mann ins Ungewisse begleitet zu haben und ihre Eltern & Geschwister zurückzulassen.
Diese Mutterliebe ist mit das krasseste, was mir diese Frau immer wieder gezeigt hat. Und damit meine ich auch die Tatsache, dass sie von mir gebastelte Dinge behielt. Trotz des Vollbesitzes ihrer geistigen Kräfte.
Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, ihr zu ihren Lebzeiten dafür zu danken und es nicht bereuen zu lassen, auch wenn sie sich ihr Leben womöglich anders vorgestellt hat.
Dziekuje, Mamusiu.
❤️